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Channel: Die MEDIENWOCHE - Das digitale Medienmagazin » Marco Metzler
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«Wir recherchieren gegen unsere politischen Präferenzen»

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Das unabhängige Nachrichtenportal «La Silla Vacía» (dt. der leere Stuhl) hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Machtverhältnisse in Kolumbien journalistisch zu hinterfragen und tut dies mittels innovativer Erzählformen und hohem Qualitätsbewusstsein.

Wer wissen will, was in Kolumbien tatsächlich vor sich geht, muss nicht die klassischen Medien lesen, sondern das Internet-Portal «La Silla Vacía». Was hat es mit dem «leeren Stuhl» auf sich? Ein Blick auf die Website und die Lektüre von Interviews mit Direktorin und Gründerin Juanita León zeigen schnell, dass das kleine aber feine Portal nicht nur in Sachen publizistischer Unabhängigkeit, sondern auch was innovative Erzählformate und zeitgemässen Onlinejournalismus betrifft, den grossen Medienhäusern einiges voraushat.

Gegen die eigenen Vorurteile recherchieren
Die Juristin León hat ihr Internetportal 2009 gegründet. Sie wollte alleine für alles verantwortlich sein, was sie veröffentlicht. «Ich glaube, dass der kolumbianische Journalismus – mit vielen Ausnahmen – sich zu stark auf die Weitergabe der Bekundungen der Mächtigen beschränkt, ohne den Kontext mitzuliefern. Die Journalisten glauben zu stark an das Märchen, das ihnen aufgetischt wird. Sie haben nicht wirklich eine eigene Agenda.» Anders bei ihrem Portal: «Das Ziel von ‚La Silla Vacía‘ ist es von einem journalistischen Standpunkt aus zu erzählen, wie und von wem in Kolumbien Macht ausgeübt wird. Wir können dabei frei und nicht beschönigend über alles berichten, was wir wissen, weil wir weder mächtige Freunde noch ökonomische Interessen haben, die unsere Geschichten beeinträchtigen können.»

Juanita León wollte einen Beitrag leisten, dass die Kolumbianer besser verstehen, wie ihr Land funktioniert. Der «leere Stuhl» ist eine Anspielung auf verschiedene Momente der kolumbianischen Innenpolitik. Gleichzeitig soll der Name bei den Lesern Neugierde wecken: Wer wohl auf dem leeren Stuhl Platz nimmt? «La Silla Vacía» war von León als Informations- und Debattier-Plattform für alle «modernen» Kolumbianer geplant, die an die Werte der Verfassung von 1991 – «unser ideologischer Leuchtturm» – glauben. Ihr Ziel dabei war es, besseren Journalismus als das Wochenmagazin «Semana» zu machen, das laut León als Massstab für journalistische Qualität in Kolumbien gilt.

Am meisten Echo lösten laut León Recherchen aus, die Landkäufe im grossen Stil unter die Lupe nahmen, oder die Auswirkungen von Megaprojekten wie beispielsweise Minen auf Umwelt und Gesellschaft sowie die Machtbeziehung zwischen Medien und Politik. «Diese Scharnierthemen zwischen dem privaten und öffentlichen Sektor werden in den traditionellen Medien selten aufgenommen», so León.

Das Internet-Portal hat keine Verbindungen zu politischen Parteien. «Die einzelnen Journalisten haben durchaus ihre politischen Präferenzen», sagt León. Dem fügt sie ein nachahmenswertes Prinzip an: «Wir versuchen aber gegen unsere Vorurteile und Präferenzen zu recherchieren, um diese Verzerrung herauszufiltern.» Ein Grundsatz, den sich gerade jene Journalisten zu Herzen nehmen könnten, die vor allem recherchieren und schreiben, um eigene Vorurteile und Präferenzen weiter zu zementieren und zu verbreiten.

Die Techniken, um die Unabhängigkeit zu bewahren, sind laut León diejenigen des guten Journalismus: «Wir haben eine objektive Methode, um Daten zu verifizieren, recherchieren gegen unsere Vorurteile an, machen keine Geschichten aus nur einer Quelle, rufen alle Seiten einer Geschichte an und recherchieren so lange, bis wir von dem überzeugt sind, was geschehen ist. Wir nehmen weder Geschenke noch Einladungen von unseren Quellen an.» Ob León und ihr Team diesen Kodex immer einhalten, kann ich nicht beurteilen. Dennoch sollte sich jeder Journalist immer wieder fragen, inwieweit er solche Prinzipien im Berufsalltag verfolgt oder noch verfolgen kann.

«La Silla Vacía» ist der Regierung gegenüber kritisch. León ist überzeugt, dass der Journalismus ein Gegengewicht zur Macht darstellen muss. «Anstatt der Macht mit Geschichten zu schmeicheln, wollen wir sie in Schach halten.» Eine eigentliche Strategie verfolgt sie dabei nicht. Es gebe nur die Verpflichtung, alles was man wisse, zu erzählen und alles man erzähle, zu wissen.

Erfolgreiche Personendatenbank
Das Portal sei erfolgreich, weil es ein Vakuum gefüllt habe, das im Bereich der politischen Information bestanden habe. «Wir wiederholen nicht einfach, was das Radio oder die grösste Tageszeitung des Landes «El Tiempo» sagt, sondern recherchieren und produzieren eigenständige Inhalte.»

León sieht ihr Portal als Laboratorium für Experimente über die Möglichkeiten und die Grenzen des Journalismus im neuen Jahrhundert. «Unsere Personendatenbank ‚Quién es quién‘ (‚Wer ist Wer‘) beispielsweise ist sehr erfolgreich und hat sich rasch zu einer umfassenden Datenbank über öffentliche Personen Kolumbiens entwickelt.»

Neben klassischen Artikeln und Geschichten, schön gestalteten interaktiven Erzählformaten, gibt es eine Rubrik «La Movida» (Die Bewegung) an dem wochentags die Redaktion eine Frage zu einem aktuellen Thema aufschaltet, die dann von Politikern, Analytikern und Intellektuellen beantwortet werden. Die Leser können die Antworten «unterstützten» oder «ablehnen».

In den Blogs schreiben Experten, Organisationen und Intellektuelle über Wirtschaft, soziale Verantwortung oder Medien. Über das interaktive Tool Urtak können die Leser Fragen stellen und diese auch beantworten. Der Redaktion dient das Werkzeug, um Meinungstendenzen auf dem Portal zu messen. Live-Berichterstattung via Twitter nennt die Redaktion «Twitterazos». Der Kurznachrichtendienst ist prominent in die Website integriert.

Bei «Querido diario» (Liebes Tagebuch) wird auf politischen Klatsch und Tratsch fokussiert. In «La Butaca» (Der Sessel) wird «das andere Kolumbien» in teilweise ironischer, ätzender Art oder aus einer unkonventionellen oder amüsanten Perspektive gezeigt. Auch mit interaktiven Video-Chats experimentiert Juanita León.

Der Familie und den Stiftungen sei dank
Die Anschubfinanzierung für «La Silla Vacía» kam aus Leóns Familie und aus einer Spende der Open Society Foundations von Milliardär und Hedge-Funds-Manager George Soros. León hält 53 Prozent am Portal, zusammen mit ihrer Familie sind es 85 Prozent. Pro Monat erreicht «La Silla Vacía» eine Million Seitenansichten und 300‘000 sogenannte Unique Visitors.

Nach einem Jahr machte Werbung etwa 15 Prozent der Einnahmen aus. Der Rest stammt aus Bereichen, die nur indirekt mit der Site verknüpft sind: Workshops für digitale Alphabetisierung, Reden, Seminare, technische Beratung sowie internationale Kooperationen in spezifischen Projekten.

Die Seite ist noch nicht rentabel. Bis jetzt war León stark von Spenden der Nichtregierungsorganisationen abhängig. «Dies hat aber nach vier Jahren oft Grenzen. Dann sagen sie dir, dass sie dir nicht mehr helfen können, oder dass in Afrika ein grosses Problem aufgetaucht ist. All das macht unser Portal verletzlich. Deshalb versuchen wir neue kommerzielle Strategien zu entwickeln», erzählt León jüngst in einem Interview.

León hat acht Vollzeitstellen geschaffen. Neben ihr arbeiten vier Journalisten, eine Kreativ-Redaktorin, ein kaufmännischer Leiter, eine Verwaltungsassistentin und ein Webmaster beim Online-Portal. Hinzu kommt eine freischaffende Designerin. Tatsächlich arbeiten aber laut León rund 70 Personen mit, seien dies Meinungsführer, Blogger oder Leser, die in die Tasten greifen.

Auch finanziell stehen die Leser der Seite bei. Im vergangenen Jahr spendeten Leser 50 Mio. Pesos (rund 26’000 Franken), was laut León etwa den Kosten für den Betrieb eines Monats entspricht. Mittelfristig sollen – so hofft León – die Nutzer die Seite vollständig finanzieren.

Überhaupt steht bei León das Publikum im Mittelpunkt. Diese werden als Teil der Redaktion gesehen und nehmen am gesamten redaktionellen Prozess teil. Knapp ein Drittel der Geschichten würden von Lesern vorgeschlagen. Die Leser reagierten über die Kommentarfunktion, wenn es Fehler in einer Geschichte gebe oder die Perspektive falsch gewählt sei. Es herrscht Registrationspflicht, dafür erhalten die Leser eine eigene Profilseite.

Leser schreiben gar selbst Texte, die von der Community-Redaktorin redigiert und in der Nutzersektion publiziert werden. Leóns Hoffnung ist, dass die Nutzer ihr Portal in einigen Jahren nicht nur komplett finanzieren, sondern auch noch mehr Inhalte erstellen werden.

Keine flächendeckende Meinungsfreiheit
Journalismus findet in Kolumbien unter härteren Rahmenbedingungen statt als anderswo. Das Land ist zweigeteilt. Ein Teil der Gebiete wird von der staatlichen Macht kontrolliert, in den anderen Teil dringen die Institutionen des Zentralstaats kaum vor. Diese Regionen befinden sich in der Hand von Paramilitärs und Guerillas, die sich beide über den Drogenanbau und -handel finanzieren und sich in ihrer Wesensart abgesehen von ideologischen und historischen Nuancen kaum unterscheiden.

Die zentrale Macht hat sich mit ihrer dezentralen Ohnmacht arrangiert. Die Verknüpfungen von offizieller Elite und inoffizieller Macht sind komplex. Entsprechend wichtig ist die Rolle der Medien als demokratisches Korrektiv. Doch die grossen Medienhäuser gehören den Eliten des Landes. «Teil des Privilegs, in Kolumbien mächtig zu sein, ist es, dass du auswählen kannst, was über dich gesagt wird und was nicht», erzählt León.

Hinzu kommt, dass die Meinungs- und Pressefreiheit in vielen Dörfern Kolumbiens nicht gewährleistet ist. Während in den staatlich kontrollierten Gebieten die Medienfreiheit funktioniert, stehen Lokaljournalisten in den Regionen immer noch den lokalen Mafias gegenüber, erzählt Juanita León.

In Bogotá fühlt sich León vom Staat beschützt. «Die Inlandsjournalisten aus der Hauptstadt, die nicht alles erzählen, was sie wissen, machen es nicht aus Angst um ihre Sicherheit, sondern weil ihre Chefs verhindern wollen, dass ihre Freunde und Werbekunden angegriffen werden könnten. In Bogotá verschweigen wir Journalisten viele Dinge, weil wir faul und feige sind oder aus der Gewohnheit, dass man gewisse Dinge nicht sagt», kritisiert León.

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